Freitag, 24. Oktober 2025

Döbel im Herbst

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Ein Döbel lauert in der sanften Strömung der Murg zwischen Herbstlaub auf einen Happen.
Foto © Jörg Niederer
"Bei Flut fressen Fische Ameisen; bei Ebbe fressen Ameisen Fische." Thailändisches Sprichwort.

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Beim Bahnhof Frauenfeld auf dem Fussgängersteg über die Murg bleiben immer wieder Kinder und Erwachsene stehen und schauen über das Geländer hinunter ins Wasser. Dort kann man bei klarer Sicht einige grössere Fische entdecken. Es sind Döbel, die sich diesen Platz als ihren Lebensraum erobert haben. Der Weissfisch hat viele Gräten und kommt daher selten auf den Tisch.

Wenn nicht gerade nach einem Sturm die Murg braun und trüb daherkommt, ist im Herbst der Blick ins Wasser geradezu surreal. Am Boden liegt ein Teppich von Herbstlaub. Auf der Wasseroberfläche treibt weiters Laub kleinen Schiffchen gleich vorbei, und dazwischen, beinahe wie ein Astronaut in der Schwerelosigkeit, schwimmt der Fisch an Ort und Stelle. Ob er sich der besonderen Ästhetik dieses Anblicks bewusst ist? Oder hat der anspruchslose Allesfresser nur Sinne für sein leibliches Wohl?

Im Frühling habe ich die Döbel bei der Kurzdorf-Brücke auch schon beim Ablaichen beobachtet. Es gibt für sie folglich Jahreszeiten. Wie wir Menschen wird er nach einigen Jahren wissen, dass sich die Landschaft bald kahl und kalt zeigen wird. Doch jetzt ist es noch einmal so richtig licht- und lustvoll, dem Treiben zuzuschauen.

Jörg Niederer

Donnerstag, 23. Oktober 2025

Die Konfluenz des Lebens

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Die von Sedimenten des Juragebirges gesättigte Dünnern mündet bei Olten in die Aare ein, ohne sich gleich mit dem klareren Flusswasser zu vermengen.
Foto © Jörg Niederer
Jesus: "...wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, wird nie wieder Durst haben. Denn das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle werden: Ihr Wasser fliesst und fliesst – bis ins ewige Leben." Bibel, Johannes 4,14

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Es ist nicht gerade die grosse Konfluenz von Rio Negro und Rio Solimões, bei der die unterschiedlichen Färbungen der beiden Ströme noch kilometerweit beobachtet werden können. Doch auch dort, wo die trübe gefärbte Dünnern in die deutlich weniger Schwebeteile führende Aare einmündet, in Olten also, bleiben die beiden Wasser einige Zeit in ihrem Fluss, bevor sie sich zunehmend und schlussendlich ununterscheidbar verqirlen.

So ist es, wenn zwei oder mehr Kulturen aufeinandertreffen. So ist es, wenn eine neue Pfarrperson in den "Gemeindestrom eingeleitet" wird. So ist es, wenn sich zweierlei Formen von Spiritualität treffen und sich im besten Fall gegenseitig befruchten. So ist es, wenn Frau auf Mann trifft oder auch Mann auf Mann und Frau auf Frau.

Es braucht Zeit, bis zur Vermengung, bis zur Symbiose, bis zur Verschmelzung, bis zur Perichorese.

Es braucht auch einen Blick für das Andere. Es braucht einen Blick für den Sinn des Andersartigen. Vielleicht kommt es dann zum Synkretismus, zur Vermischung verschiedener Philosophien oder Lebensstile.

Aktuell diskutiert man, ob man die von Ewigkeitschemikalien belasteten Trinkwasservorräte durch Hinzufügung von unbelastetem Trinkwasser wieder bedenkenlos trinkbar machen kann. Da stellt sich die Frage: Was geschieht, wenn der eine Strom übel und der andere rein ist? Wird beides schlecht oder beides gut? Oder können in dieser Sache diese moralischen Kriterien gar nicht angewendet werden?

Christlich theologisch könnte man nun davon sprechen, dass sich Gott in Jesus Christus als Mensch in den Strom der Menschheit hineingegeben hat. Diese Menschwerdung von Jesus ist zu Vergleichen mit einem Tropfen, der in die Wassermassen des Pazifiks fiel. Seither ist dieser Menschheits-Pazifik nicht mehr der selbe wie zuvor. Für einmal und unerwartet hat die homöopathische Dosis mehr als gewirkt, und alles, was es gibt, wird nach und nach verwandelt werden.

Jörg Niederer

Mittwoch, 22. Oktober 2025

Der Islamische Friedhof von Altach

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Gräber auf dem Islamischen Friedhof von Altach. Der Friedhof steht allen Muslim:innen des österreichischen Bundeslands Vorarlberg zur Verfügung.
Foto © Jörg Niederer
"Der Islamische Friedhof Altach ist ein Friedhof für Angehörige des Islam, die zum Zeitpunkt ihres Ablebens ihren Hauptwohnsitz im Bundesland Vorarlberg haben. Der Rechtsträger des IFA ist die Gemeinde Altach." Aus dem Friedhofsreglement 

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Man stelle sich vor, dass in Weinfelden ein Grundstück ausgeschieden wird, um darauf einen Islamischen Friedhof zu errichten, der allen Muslim:innen des Kantons Thurgau zur Beisetzung ihrer Verstorbenen zur Verfügung steht und der auch noch von der Gemeine Weinfelden verwaltet wird. Unvorstellbar. (Siehe Beitrag vom 14. Januar 2025)

Aber genau das hat die nahe der Schweizer Grenze liegende österreichische Gemeinde Altach für ganz Vorarlberg umgesetzt. Nach Wien ist es der zweite Islamische Friedhof. Er besteht aus den "Gräberfeldern, der Verabschiedungshalle, den Räumlichkeiten für die rituelle Waschung sowie einem Gebetsraum. Die fünf Gräberfelder sind fingerförmig nebeneinander angelegt und bieten Platz für bis zu 700 Gräber, wobei sowohl Einzel- als auch Doppel- und Kindergräber vorgesehen sind. Alle Gräber sind so angelegt, dass die Bestatteten den islamischen Vorschriften entsprechend auf der rechten Seite mit dem Gesicht nach Mekka beerdigt werden können." (Wikipedia)

Die Grabesruhe dauert jeweils 15 Jahre. Dann kann sie von den Angehörigen um weitere 15 Jahre verlängert werden.

Am Montag besuchten wir als Pfarrkleingruppe den Islamischen Friedhof. 2012 wurde der vom Architekten Bernardo Bader gestaltenten Bestattungsplatz eröffnet. Gekostet hat er 23 Millionen Euro. 2013 wurde er durch den "Aga Khan Award for Architecture" ausgezeichnet. Den Preis hat der Friedhof verdient. Man muss diesen Ort im Vorarlberg gesehen haben. 

Die Grunderkenntnis zum islamischen Friedhof war die Feststellung, dass etwa 10% der Bevölkerung Vorarlbergs Muslim:innen sind. Davon sind die Hälfte österreichische Staatsbürger:innen. Sie gehören zur Gesellschaft dazu, und sollen also auch einen Ort haben, an dem sie ihre Verstorbenen nach islamischen Riten beisetzen können.

Geht man mit christlich geprägten Augen über den Friedhof, fällt auf, dass es da gar nicht so anders aussieht wie auf einem katholischen oder evangelischen Friedhof. Kreuze findet man natürlich nicht, dafür den achtstrahligen Stern. Es gibt Grabsteine und viele menschenähnliche Holzstelen bei den Gräbern. Die Kindergräber sind sofort anhand der Beigaben zu erkennen. Andere Gräber sind reich geschmückt mit Blumen und Stauden. Auf einem Grabstein ist sogar das Foto des Verstorbenen angebracht, so wie es oft auf katholischen Friedhöfen der Brauch ist. Auch Kerzen und Lichter findet man an den Gräbern. Auf manchen Grabstelen wurde das Lieblingskopftuch der Verstorbenen platziert.

Die Lage des Friedhofs weitab von weiteren Gebäuden und idyllisch gelegen mitten in der Natur bietet Platz für 700 Einzelgräber. Es ging einige Jahre, bis die Bestattungen auf dem Friedhof nun deutlich zugenommen haben. Heute sind wohl an die 400 Grabplätze vergeben.

Man kann der Gemeinde Altach und dem Land Vorarlberg für diese Religionen und Bevölkerungsschichten integrierende Meisterleistung nur gratulieren.

Übrigens kann nicht weit von diesem islamischen Friedhof entfernt auch der historische jüdische Friedhof von Hohenems besucht werden. Anders als der islamische Friedhof ist dieser nicht frei zugänglich. Der Schlüssel muss im Jüdischen Museum Hohenems abgeholt werden.

Jörg Niederer

Dienstag, 21. Oktober 2025

Kultur und Natur

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Selfie der Schrumpf-Pfarrkleingruppe in der Ruine Burg Alt Ems.
Foto © Jörg Niederer
"Der Menschheit Herr, Herr der Völker, bewahr uns vor Krieg, vor seinen Schrecken und wunden. Herr lass uns im Frieden verbleiben mit allen, die Menschenantlitz tragen nach deinem Bild und Gleichnis, Herr des Alls." Aus einem Gebet, angeschlagen in der Kobel-Kapelle Götzis  

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Einmal im Jahr wandert die methodistische Pfarrkleingruppe Ostschweiz. Gestern ging es wetterbedingt nach Österreich, von Hohenems nach Götzis. Viele waren es nicht, die da hinaufkeuchten auf den Schlossberg von Hohenems zur längsten österreichischen Burganlage des Mittelalters, zur Ruine der Burg Alt Ems. Gerade einmal drei von möglichen sieben Pfarrpersonen erlebten den Herbst, die Architektur, Kultur und Natur, wanderten im Trockenen, im Regen, durch Friedhöfe, zu verschlossenen und geöffneten Gasthäusern, an Gärten aller Art vorbei, schweigend, lachend, diskutierend, essend. Da wurden so nebenbei aus der Ferne Windeln geordert, eine Jause eingelegt, über den rechten Weg diskutiert und noch vieles mehr. Einer hatte ein Heimspiel, während zwei sich (kaum) als Ausländer:innen fühlten, in der Region, in der die Bevölkerung sich einst vergeblich um den Anschluss an die Schweiz bemühten.

Zu den kulturellen Highlights nebst der Burganlage gehörten der Jüdische Friedhof und der architektonisch ausgesprochen eindrückliche Islamische Friedhof Altach. Am Pastoralen kommt man auf so einer Tour als Pfarrer:in halt auch nicht ganz vorbei, treibt sich unsereine:r doch immer einmal wieder auch beruflich auf Totenäckern herum. Skurriler Kontrast zur andächtigen Friedhofsstimmung boten zwei für Halloween ausgeschmückte und sich konkurrierende Vorgärten in Hohenems mit menschlichem Gerippen, inszenierten offenen Gräbern, Kettensägenmonster, und grinsenden Kürbissen.

Ach ja, Aussicht hatten wir auch, Kolkraben krächzten schauerlich, Spechte flogen vorbei, das Rheintal brummte hundertfach motorisiert und Passanten grüssten "Servus". Ich finde: Es hat gepasst. Gerne wieder einmal.

Jörg Niederer

Montag, 20. Oktober 2025

Herdendummheit

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Wandernde auf einem innoffiziellen Weg in der französischsprachigen Schweiz.
Foto © Jörg Niederer
"...wo stehe ich persönlich in Gefahr, der Masse (ob auf dem breiten Weg oder dem schmalen Trampelpfad) zu folgen und dabei das Selberdenken der Bequemlichkeit zu opfern?" Stef Gerber im Blog: "Gemeinsam falsch"

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Heute darf ich mit der Pfarrkleingruppe, zu der ich während meiner beruflichen Tätigkeit dazugehörte, wandern gehen. Es wird in der Tat eine sehr kleine Gruppe, nachdem vier Personen aus verschiedenen Gründen absagen mussten. Wir werden in Österreich wandernd, da dort das schlechte Wetter an diesem Tag später ankommt als auf Schweizer Seite.

Zu diesem Vorhaben passt ein Blogbeitrag von einem anderen Berufskollekten. Stef Gerber stellt darin anhand einer Wandererfahrung augenzwinkernd fest, dass man sich auch gemeinsam verlaufen kann, dass manchmal auch der schmale Weg in die Irre führt. Dazu zitiert er (nicht mehr augenzwinkernd) aus einem Buch von Willi Näf mit dem geistreichen Titel: "Seit ich tot bin, kann ich damit leben". In einem fiktiven Interview mit dem SS-Obersturmführer Lutz Baumgartner geht es um Gleichschaltung, Gruppendruck und Herdendummheit. Die Gegenwart lässt grüssen.

Jörg Niederer

Sonntag, 19. Oktober 2025

Massstäbe

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Die aus dem 12. Jahrhundert stammende Wiler Madonna in der Marienkapelle der Stadtkirche St. Nikolaus (Wil SG).
Foto © Jörg Niederer
"Ihr sollt andere nicht verurteilen, dann wird Gott auch euch nicht verurteilen. Sitzt über niemanden zu Gericht, dann wird Gott auch über euch nicht zu Gericht sitzen. Vergebt anderen, dann wird Gott auch euch vergeben." Bibel, Lukas 6,37

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Im Buch "Der Friedhof in Prag" erzählt Umberto Eco die Geschichte eines Anwalts, der mit Urkundenfälschung und Falschaussagen Menschen begünstigt und andere ins Gefängnis gebracht hatte. Dieser korrupte Anwalt stellt einen jungen Advokaten ein, den er einst, ohne sich dessen bewusst zu sein, um sein Erbe gebracht hatte. Der junge Advokat lernt die üblen Machenschaften seines Arbeitsgebers. Mit diesen Mitteln bringt er den Anwalt hinter Gitter und die Anwaltskanzlei in seinen Besitz.

Was der Mensch sät, das wird er ernten. Oder wie es in Lukas 6,38 heisst: "Denn der Massstab, den ihr an andere anlegt, wird auch für euch gelten."

Jörg Niederer

Samstag, 18. Oktober 2025

Gefahrentolerant und fauchend

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Das Weibchen eines Hausrotschwanzes sitzt auf der Hütezaunstange.
Foto © Jörg Niederer
"Gott wünscht, dass wir den Tieren beistehen, wenn es vonnöten ist. Ein jedes Wesen in Bedrängnis hat gleiches Recht auf Schutz." Franz von Assisi (1182–1226)

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Was habe ich von meinem Vater gelernt? Erstaunlicherweise viele Dinge, die in der Natur vorkommen. Dabei war er ein typischer Vertreter seiner Zeit, ging kaum zu Fuss, fuhr leidenschaftlich gerne mit dem Auto, tauchte im Schwimmbad locker die 50 Meter und war in der Lage, beinahe alles an einem Haus selbst zu bauen und zu reparieren. Was er auch wusste: Wie der Hausrotschwanz sein Leben für seine Jungen einsetzt. So lenkt der Vogel vom Standort des Nestes ab, indem er (vermeintliche) Fressfeinde nahe herankommen lässt, um dann im letzten Moment wieder an einen anderen Ort zu fliegen. Ablenkungsflüge nennt man dieses Verhalten. Zudem hat der einstige Felsenbrüter aus den Bergen festgestellt, dass es in der Nähe der Menschen seinen Feinden nicht besonders behagt. So lebt er nun meist in und bei Häusern. Beim diesjährigen Birdrace in der Schweiz sichteten 97 von 100 Teams den kleinen Vogel mit dem roten Schwanz. Anders als der Gartenrotschwanz ist der Hausrotschwanz, dessen Singen fauchende Laute enthält und der in Deutschland zum Vogel des Jahres 2025 gewählt wurde, also nicht.

Das fotografierte Hausrotschwanz-Weibchen wird sich wohl schon bald auf den Weg nach Nordafrika aufmachen. Dort verbringt es den Winter. Im Frühjahr kommt der Vogel mit dem orangeroten Schwanz dann wieder zurück, um hier seine meist zwei Bruten grosszuziehen. Darauf freue ich mich jedes Jahr.

Jörg Niederer

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