Ein Zitat
"Die Menschen werden jenes Ding verfolgen, vor dem sie am meisten Angst haben." Leonardo Da Vinci (1452–1519)
Foto © Jörg Niederer
Hingesehen
Angst sei ein schlechter Ratgeber, heisst es. Unvermittelt stand ich einen Schritt weit weg von drei Europäischen Hornissen. Mit nur wenige Zentimeter Spielraum wollte ich mich zwischen Birke und Gartenbank durchzwängen.
Hornissen. Früher hätte ich mich vor unseren grössten Fächerflüglern gefürchtet. Diesmal ging ich bis wenige Zentimeter mit dem Fotoapparat an sie heran. Sie liessen sich von mir beim Saugen des Birkensafts nicht stören. Eine vierte Hornisse flog sogar noch heran und setzte sich unter die Kamera.
Früher erzählten wir uns, dass es nur sieben Hornissenstiche brauche, um ein Pferd zu töten, und nur drei bei einem Menschen. Doch erstens stimmt das nicht. Selbst bei gefährlicheren Hornissen in den Tropen braucht es bei auf das Gift nicht allergischen Menschen mindestens dreihundert Stiche. Und zweitens sind die Europäischen Hornissen wenig aggressiv, was ich dort bei der Birke gut beobachten konnte.
Angst ist also bei diesen Insekten unbegründet.
Könnte es sein, dass wir uns oft täuschen in der Einschätzung von dem, was uns Angst machen sollte, und dem, wovor wir uns fürchten? Nur ein Beispiel: Warum ängstigen sich viele Menschen hier in der Schweiz mehr vor Schlangen als vor einer Autofahrt? Seit 1961 ist kein Mensch mehr durch einen Schlangenbiss ums Leben gekommen. Dagegen sind in der Schweiz allein im Jahr 2024 250 Personen im Strassenverkehr ums Leben gekommen. Würde Bundesrat Rösti ebenso konsequent wie er gegen Wölfe vorgeht (Es gab im Zeitraum von 1950 bis heute in Europa 8 durch Wölfe getötete Menschen, allesamt durch angefütterte Tiere oder durch Tollwut) gegen Todesfälle im Strassenverkehr handeln, müsste generell 30 km/h innerorts auf allen Strassen schon längst eingeführt sein. Selbst vor Schulen, vor denen Kinder schon durch den Strassenverkehr ums Leben gekommen sind, darf mitunter nicht das Tempo von 50 auf 30 km/h reduziert werden.
Bei diesem Vergleich spielt aber wohl noch eine andere Angst eine noch grössere Rolle. Die Angst vor einem Verlust an Popularität bei der eigenen Wählerschicht, bei den Autofahrer:innen und den Landwirt:innen.
So kommt es, dass wir uns lieber vor Hornissen fürchten, als vor einer Wanderung in den Bergen oder den Motorfahrzeugen auf dem Schulweg unserer Kinder. Vielleich sollten wir uns am ehesten vor unserer unkalibrierten Angst ängstigen, die uns immer wieder blind werden lässt für das, was uns am meisten das Fürchten lernen sollte: der wachsenden Lieblosigkeit gegen unsere Mitmenschen.
Jörg Niederer
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen