Freitag, 31. Oktober 2025

Wir protestieren gegen den Tod

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Halloween-Miniaturen in Kartonkisten sind im Schaufenster des Quartiervereins "Im Vogel" in Wollishofen ausgestellt.
Foto © Jörg Niederer
"liebe gemeinde / wir befehlen zu viel / wir gehorchen zu viel / wir leben zu wenig" Kurt Marti (1921-2017) im Buch "Leichenreden" (Darmstadt und Neuwied 1984, S. 35)

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Zum heutigen Halloween gäbe es gleich einige Illustrationen. Da wäre das auf Güterwagons der Bahn gesprayte menschliche Skelette. Oder dann der schauerliche Dekorationswettkampf zweier Nachbarn im Vorarlbergischen Hohenems. Auch die drei klassisch geschnitzten, ausgehölten und mit Kerzenlicht erleuchteten Kürbisfratzen auf dem Brunnen vor dem methodistischen Mehrfamilienhaus in Frauenfeld wären schön anzusehen. Ich habe mich aber für die Aktion "Brings i'd Box" des Quartiervereins "Im Vogel" von Wollishofen entschieden. Dabei sind einige wirklich kreative Halloween-Miniaturen entstanden. So wird Barbies Tod zelebriert, Clowns sind zu sehen und viele Gerippe. Manches erinnert an kirchliche Reliquien.

Nun ist Halloween in frommen Kreisen immer noch umstritten. Dabei macht diese spielerische Beschäftigung mit dem Tod durchaus Sinn. Gleich wie in den Leichenreden von Kurt Marti der floskelhaften Flucht vor dem Sterben eine Absage erteilt wird, so wird an Halloween der Verdrängung des Todes in der westlichen Welt explizit widersprochen. Das geschieht mit einer morbiden Fröhlichkeit. Die Angst vor dem Tod findet ein Ventil im gemeinsamen Zelebrieren der Vergänglichkeit. Die Leichenschau des kleinen Mannes bereitet die Menschen auf das Unvermeidliche vor. Beim Betteln an der Haustür wird das Unvermeidliche versüsst.

Vielleicht ist Halloween ja auch ein Flucht in die Realität. Eine Realität, die Kurt Marti so verräterisch in Worte fasste: "dem herrn unserem gott / hat es ganz und gar nicht gefallen / dass gustav e. lips / durch einen Verkehrsunfall starb. … dem herrn unserem gott / hat es ganz und gar nicht gefallen / dass einige von euch dachten / es habe ihm solches gefallen // im namen dessen der tote erweckte / im namen des toten der auferstand: / wir protestieren gegen den tot von Gustav e. lips" (Kurt Marti, Leichenreden, Darmstadt und Neuwied 1984, S. 23)

Jörg Niederer

Donnerstag, 30. Oktober 2025

Alte Kapelle im Tal der Sihl

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Eine der ältesten Kapellen der Bischöflichen Methodistenkirche steht in Adliswil, erbaut im Jahr 1885.
Foto © Jörg Niederer
"Wir möchten das Leben feiern, fördern und miteinander teilen." Motto auf der Webseite der Evangelisch-methodistischen Kirche Adliswil

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"KAPELLE DER BISCH. METHODISTENGEMEINDE / Dem DIENST DES HERRN GFEWEIHT 29. SEPT. 1885" ist an der Fassade links und rechts des leicht erhöhten Eingangs der Kapelle in zwei Aussparungen zu lesen. Tatsächlich war das Gotteshaus eines der ersten Gebäuden im Adliswiler Stadtteil Grund. Die markante Sichtbacksteinkirche steht da, wo die Grundstrasse einen rechtwinkligen Knick macht. Besonders eindrücklich ist es, ihr vom der Kilchbergstrasse entgegenzugehen. Schon von weitem ist die Kapelle am Strassenende auszumachen.

Die Sihl windet sich bei Adliswil.
Foto © Jörg Niederer
Auf dem Parkplatz daneben steht ein Camper. Ich weiss, er gehört dem Pfarrer. Bei ihm im Pfarrhaus klingle ich und werde von Daniel Eschbach herzlich empfangen und mit einem Espresso verwöhnt. Nur eine Viertelstunde dauert der Aufenthalt. Dabei erinnern wir uns wieder daran, wie wir, er war damals noch Pfarrer in Bülach, rund 500 schwere Flanellbilder von einem Lager in Bülach nach Adliswil in die Kapelle zügelten. Gesammelt wurden diese Bilder (hier sind einige Beispiele zu sehen) von der verstorbenen Diakonisse und Pfarrerin Elisabeth Russenberger. Eingesetzt wurden sie in den Sonntagschulen der Methodistenkirchen. Die Sonntagschulen waren lange Zeit der Importschlager und ein Alleinstellungsmerkmal der Methodist:innen, bis die Landeskirchen nachzogen.

Dann geht meine Fussreise weiter Richtung Horgen, nicht ohne der Sihl Adieu zu sagen. Diesem eindrücklichen Fliessgewässer, das teilweise noch unverbaut seinen Lauf sucht, bin ich vor Jahren zusammen mit meiner Frau von der Mündung in Zürich hinauf zum Sihlsee und weiter gefolgt. Ganz fertig bin ich mit dem Fluss noch nicht. Es fehlt noch der Aufstieg zur Quelle, dem Sihlseeli auf 1895 m.ü.M.; Es liegt unweit des Pragelpasses. Vielleicht im nächsten Jahr, mal schauen. Vorerst geht es weiter auf meiner methodistischen Kapellentour.

Jörg Niederer

Mittwoch, 29. Oktober 2025

Das neue Wanderprojekt

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Selfie vor der Wesley Kapelle in Wollishofen. Dort trifft sich aktuell die Regenbogenkirche.
Foto © Jörg Niederer
"Wir wollen Kirche sein mit allen und für alle – auch und speziell für Menschen, die in anderen Kirchen zum Beispiel infolge ihrer sexuellen Orientierung ausgegrenzt werden. Bei uns sind alle Anlässe offen für alle." Webseite der Regenbogenkirche

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Statt sich immer wieder mühsam für ein neues Wanderziel zu entscheiden habe ich mir ein neues Projekt vorgenommen. Es knüpft an eine frühere Erfahrung an. In der Zeit, als ich für die Methodistenkirche als Distriktsvorsteher wirkte, bin ich der Reihe nach zu allen kirchlichen Liegenschaften "meines" Distrikts Nordostschweiz hingewandert. Dies führte mich auf interessante Wege, die ich anders wohl nie begangen hätte. Gestern startete ich in eine Fortsetzung. Nun werde ich die kirchlichen Liegenschaften in Distrikt Nordwestschweiz erwandern. Das wird mich vom Raum Zürich bis in die Region Biel führen und von Glarus (Gehört eigentlich zum Distrikt Nordostschweiz, war aber zu meiner Zeit noch beim Distrikt Nordwestschweiz) bis Basel.

Gestern startete ich eine erste Etappe bei der Regenbogenkirche in Wollishofen. Die Regenbogenkirche ist die wohl schweizweit erste Kirche für wirklich alle Menschen, ganz besonders für Personen, die sich zur LGBTQI+-Community zählen. Diese methodistische Gemeinde feiert ihre Gottesdienste aktuell in der denkmalgeschützten Wesley Kapelle an der Mutschellenstrasse 188 in Zürich-Wollishofen. Am Sonntag zuvor habe ich dort an einem berührenden Salbungs- und Segnungsgottesdienst teilgenommen und lernte einige neue Menschen kennen, aber auch mir bekannte Personen waren dabei. 

Der Ort, an dem sich die Regenbogenkirche trifft, wird im Verlauf der Zeit, in dem ich wandernd im Distrikt Nordwestschweiz unterwegs sein werde, ändern. In etwa einem Jahr muss die Gemeinde umziehen. Wohin steht aktuell noch nicht endgültig fest. Ich werde meine Tour so legen, dass ich an diesem neuen Ort dann als Abschluss meiner Wanderrunde wieder einen Gottesdienst feiern kann.

Gestern erwanderte ich mir gleich noch drei weitere "methodistische" Liegenschaften. Da wäre einmal die wunderschöne Sichtbackstein-Kapelle in Adliswil. Auf sie werde ich morgen zu sprechen kommen. Den Abschluss dieser ersten Etappe feierte ich in der Kapelle Horgen, die heute eingebettet ist in das ebenfalls auf methodistische Wurzeln zurückgehende Alterszentrum Haus Tabea. Ideal, dass dort die Tür zur Kapelle offen stand und ich in der Stille Zeit verbringen konnte.

Rückblickend war es ein prächtiger Wandertag mit Fernsicht zu den frisch eingeschneiten Bergen. Auch gäbe es noch viel mehr zu sagen, vom geretteten Tigerschneggel in Wollishofen bis zur schneeweisen Katze in Horgen. Vielleicht komme ich später darauf zurück.

Jörg Niederer

Dienstag, 28. Oktober 2025

Letztes Sonnenlicht

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Von der Abendsonne erleuchtet Blüten der Färber-Hundskamille in einer Buntbrache
Foto © Jörg Niederer
"Die Kraft, das Weh im Leib zu stillen, / verlieh der Schöpfer den Kamillen.
Sie blühn und warten unverzagt / auf jemand, den das Bauchweh plagt.
Der Mensch jedoch in seiner Pein / glaubt nicht an das, was allgemein
zu haben ist. Er schreit nach Pillen. / Verschont mich, sagt er, mit Kamillen,
um Gotteswillen!" Karl-Heinrich Waggerl (1897-1973)

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Danach sehnt man sich im Mittelland in diesen Tagen: nach Sonnenschein. Auch die letzten Färber-Hundskamille in der Buntbrache bei der Zuckerfabrik Frauenfeld strecken ihre Blüten dem Licht entgegen. Nach dem gestrigen düsteren Regentag erhoffe auch ich mir heute deutlich mehr Sonnensichtung. Ich will wieder einmal der Geschichte "meiner" Kirche folgen. Los geht es im Raum Zürich. Mehr dann in einem späteren Blogbeitrag.

Jörg Niederer

Montag, 27. Oktober 2025

Die einsame Birke

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Eine Birke auf offenem Feld wird vom böigen Westwind kräftig durchgeschüttelt.
Foto © Jörg Niederer
"Man zapfet aus der Birke / sehr angenehmen Wein, / man reibt sich, / dass es wirke, / die Glatze damit ein." 4. Strophe aus dem Gedicht "Die Birke" von Wilhelm Busch (1832-1908) 

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Jeweils im Herbst, wenn die Blätter fielen und im Frühjahr, wenn es von den Birken klebrig tropfte, ärgerte sich mein Vater über die Birke, die bei seiner Werkstätte stand. Eines Tages dann lag der Ärger in transportfähige Stücke zersägt vor dem Gebäude. Der Baum war weg, und die in die Jahre gekommene Werkstätte sah von aussen noch trostloser aus.

An meinem Wohnort komme ich an einer Birke vorbei. Sie steht einsam mitten auf dem Feld. Ein Feldweg, als Wanderweg ausgeschildert, führt leicht bergan an ihr vorbei. Jetzt im Herbst wird sie arg durchgeschüttelt. Der Sturmwind fährt heftig in ihr Astwerk. Abgebrochene Zweige liegen auf dem Weg. Doch sie steht da und bleibt mir ein Wegzeichen. Ja, sie scheint dem Westwind leicht entgegenzuwachsen, wie wenn sie sagen wollte: "Du kannst mich nicht von einem aufrechten, ehrlichen Stand abbringen. Wer mich rüttelt, den schüttle ich ab." Solcherlei Widerstand gefällt mir.

Jörg Niederer

Sonntag, 26. Oktober 2025

Ein ungebetener Gast

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Weihnachtsprojektionen eines Gastes auf eine Tür in Frauenfeld.
Foto © Jörg Niederer
"Abraham sagte: 'Mein Herr, wenn ich Gnade vor dir gefunden habe, dann geh nicht hier vorüber. Ich stehe dir zu Diensten'." Bibel, 1. Mose 18,3

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Drei wildfremde Menschen stehen vor dem Zelt Abrahams. Er kennt sie nicht. Doch er lädt sich sogleich zum Essen ein. Das ist orientalische Gastfreundschaft.

Ich stelle mir vor, wie ich, ein Schweizer, in der Wohnung sitze. Da klingelt es. "Ja", frage ich durch die Gegensprechanlage. Jemand fragt im gebrochenen Deutsch, ob er mit mir sprechen dürfe. Ich bin misstrauisch. Was will denn der? Warum läutet er bei mir?

Ich überwinde mein Misstrauen und öffne. Nun steht er vor der offenen Wohnungstür. Kein Hausierer, kein Bettler. Und doch weiss ich nicht recht, ob ich ihn hereinbitten will.

"Was möchten Sie?" frage ich ihn. "Nur mit Ihnen reden und einen Kaffee trinken", antwortet er. "Sie wollen mit mir meinen Kaffee trinken, an meinem Tisch sitzen, und auf Kosten von meiner Zeit mit mir reden." Nun müsste er merken, dass ich nicht begeistert bin. "Sie sind nicht etwa von den Zeugen Jehovas?" frage ich ihn. Er schweigt. Er hat verstanden. Bei uns steht nicht jedem X-beliebigen die Tür offen. Bei uns kann man nicht einfach so kommen. Bei uns sind Gäste willkommen – nach Voranmeldung und mit gültigen Ausweispapieren. Ich schliesse die Wohnungstür. Ich bin froh, dass er von alleine wieder gegangen ist.

Was wäre, wenn Abraham derart seinen Besuch weggewiesen hätte? Er hätte die Ankündigung seines Lebens verpasst. Es sind manchmal Fremde, die dir das Wichtigste im Leben sagen. Wie heisst es doch im Hebräerbrief 13,2: "Vergesst die Gastfreundschaft nicht. Denn auf diese Weise haben manche, ohne es zu wissen, Engel als Gäste aufgenommen."

Jörg Niederer

Samstag, 25. Oktober 2025

Wächterin

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Eine Haus-Feldwespe bewacht den Eingang zu einem Bereich im Bienenhotel. Im Hintergrund ist eine zweite zu sehen.
Foto © Jörg Niederer
"Wenn dich die Lästerzunge sticht, so lass dir dies zum Troste sagen: Die schlecht'sten Früchte sind es nicht, woran die Wespen nagen." Gottfried August Bürger (1747-1794)

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Nacheinander flogen zwei Haus-Feldwespen heran und schlüpften in eine Nische des Bienenhotels. Dort bezog die eine am Eingang Stellung. Schön anzusehen ist das etwa 15 Millimeter lange Insekt ja schon von blossem Auge. Die Nahaufnahme offenbart aber noch Details. Da sind die kleinen Krallen an den Füssen, die Segmente auf den fast ganz gelb gefärbten Fühlern, dann die vielen Poren auf der gelben Nasenspitze und auch die alien-artig geformten Fassettenaugen möchte ich hervorheben. Stechen kann die Feldwespe schon auch, doch gehört sie zu den friedlicheren unter den Wespen.

Mir kommt sie vor, als würde sie eher auf Gäste warten denn das Heim bewachen. Neugierig schaut sie hinaus und lässt sich von der Sonne erleuchten.

Jörg Niederer

Freitag, 24. Oktober 2025

Döbel im Herbst

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Ein Döbel lauert in der sanften Strömung der Murg zwischen Herbstlaub auf einen Happen.
Foto © Jörg Niederer
"Bei Flut fressen Fische Ameisen; bei Ebbe fressen Ameisen Fische." Thailändisches Sprichwort.

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Beim Bahnhof Frauenfeld auf dem Fussgängersteg über die Murg bleiben immer wieder Kinder und Erwachsene stehen und schauen über das Geländer hinunter ins Wasser. Dort kann man bei klarer Sicht einige grössere Fische entdecken. Es sind Döbel, die sich diesen Platz als ihren Lebensraum erobert haben. Der Weissfisch hat viele Gräten und kommt daher selten auf den Tisch.

Wenn nicht gerade nach einem Sturm die Murg braun und trüb daherkommt, ist im Herbst der Blick ins Wasser geradezu surreal. Am Boden liegt ein Teppich von Herbstlaub. Auf der Wasseroberfläche treibt weiters Laub kleinen Schiffchen gleich vorbei, und dazwischen, beinahe wie ein Astronaut in der Schwerelosigkeit, schwimmt der Fisch an Ort und Stelle. Ob er sich der besonderen Ästhetik dieses Anblicks bewusst ist? Oder hat der anspruchslose Allesfresser nur Sinne für sein leibliches Wohl?

Im Frühling habe ich die Döbel bei der Kurzdorf-Brücke auch schon beim Ablaichen beobachtet. Es gibt für sie folglich Jahreszeiten. Wie wir Menschen wird er nach einigen Jahren wissen, dass sich die Landschaft bald kahl und kalt zeigen wird. Doch jetzt ist es noch einmal so richtig licht- und lustvoll, dem Treiben zuzuschauen.

Jörg Niederer

Donnerstag, 23. Oktober 2025

Die Konfluenz des Lebens

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Die von Sedimenten des Juragebirges gesättigte Dünnern mündet bei Olten in die Aare ein, ohne sich gleich mit dem klareren Flusswasser zu vermengen.
Foto © Jörg Niederer
Jesus: "...wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, wird nie wieder Durst haben. Denn das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle werden: Ihr Wasser fliesst und fliesst – bis ins ewige Leben." Bibel, Johannes 4,14

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Es ist nicht gerade die grosse Konfluenz von Rio Negro und Rio Solimões, bei der die unterschiedlichen Färbungen der beiden Ströme noch kilometerweit beobachtet werden können. Doch auch dort, wo die trübe gefärbte Dünnern in die deutlich weniger Schwebeteile führende Aare einmündet, in Olten also, bleiben die beiden Wasser einige Zeit in ihrem Fluss, bevor sie sich zunehmend und schlussendlich ununterscheidbar verqirlen.

So ist es, wenn zwei oder mehr Kulturen aufeinandertreffen. So ist es, wenn eine neue Pfarrperson in den "Gemeindestrom eingeleitet" wird. So ist es, wenn sich zweierlei Formen von Spiritualität treffen und sich im besten Fall gegenseitig befruchten. So ist es, wenn Frau auf Mann trifft oder auch Mann auf Mann und Frau auf Frau.

Es braucht Zeit, bis zur Vermengung, bis zur Symbiose, bis zur Verschmelzung, bis zur Perichorese.

Es braucht auch einen Blick für das Andere. Es braucht einen Blick für den Sinn des Andersartigen. Vielleicht kommt es dann zum Synkretismus, zur Vermischung verschiedener Philosophien oder Lebensstile.

Aktuell diskutiert man, ob man die von Ewigkeitschemikalien belasteten Trinkwasservorräte durch Hinzufügung von unbelastetem Trinkwasser wieder bedenkenlos trinkbar machen kann. Da stellt sich die Frage: Was geschieht, wenn der eine Strom übel und der andere rein ist? Wird beides schlecht oder beides gut? Oder können in dieser Sache diese moralischen Kriterien gar nicht angewendet werden?

Christlich theologisch könnte man nun davon sprechen, dass sich Gott in Jesus Christus als Mensch in den Strom der Menschheit hineingegeben hat. Diese Menschwerdung von Jesus ist zu Vergleichen mit einem Tropfen, der in die Wassermassen des Pazifiks fiel. Seither ist dieser Menschheits-Pazifik nicht mehr der selbe wie zuvor. Für einmal und unerwartet hat die homöopathische Dosis mehr als gewirkt, und alles, was es gibt, wird nach und nach verwandelt werden.

Jörg Niederer

Mittwoch, 22. Oktober 2025

Der Islamische Friedhof von Altach

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Gräber auf dem Islamischen Friedhof von Altach. Der Friedhof steht allen Muslim:innen des österreichischen Bundeslands Vorarlberg zur Verfügung.
Foto © Jörg Niederer
"Der Islamische Friedhof Altach ist ein Friedhof für Angehörige des Islam, die zum Zeitpunkt ihres Ablebens ihren Hauptwohnsitz im Bundesland Vorarlberg haben. Der Rechtsträger des IFA ist die Gemeinde Altach." Aus dem Friedhofsreglement 

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Man stelle sich vor, dass in Weinfelden ein Grundstück ausgeschieden wird, um darauf einen Islamischen Friedhof zu errichten, der allen Muslim:innen des Kantons Thurgau zur Beisetzung ihrer Verstorbenen zur Verfügung steht und der auch noch von der Gemeine Weinfelden verwaltet wird. Unvorstellbar. (Siehe Beitrag vom 14. Januar 2025)

Aber genau das hat die nahe der Schweizer Grenze liegende österreichische Gemeinde Altach für ganz Vorarlberg umgesetzt. Nach Wien ist es der zweite Islamische Friedhof. Er besteht aus den "Gräberfeldern, der Verabschiedungshalle, den Räumlichkeiten für die rituelle Waschung sowie einem Gebetsraum. Die fünf Gräberfelder sind fingerförmig nebeneinander angelegt und bieten Platz für bis zu 700 Gräber, wobei sowohl Einzel- als auch Doppel- und Kindergräber vorgesehen sind. Alle Gräber sind so angelegt, dass die Bestatteten den islamischen Vorschriften entsprechend auf der rechten Seite mit dem Gesicht nach Mekka beerdigt werden können." (Wikipedia)

Die Grabesruhe dauert jeweils 15 Jahre. Dann kann sie von den Angehörigen um weitere 15 Jahre verlängert werden.

Am Montag besuchten wir als Pfarrkleingruppe den Islamischen Friedhof. 2012 wurde der vom Architekten Bernardo Bader gestaltenten Bestattungsplatz eröffnet. Gekostet hat er 23 Millionen Euro. 2013 wurde er durch den "Aga Khan Award for Architecture" ausgezeichnet. Den Preis hat der Friedhof verdient. Man muss diesen Ort im Vorarlberg gesehen haben. 

Die Grunderkenntnis zum islamischen Friedhof war die Feststellung, dass etwa 10% der Bevölkerung Vorarlbergs Muslim:innen sind. Davon sind die Hälfte österreichische Staatsbürger:innen. Sie gehören zur Gesellschaft dazu, und sollen also auch einen Ort haben, an dem sie ihre Verstorbenen nach islamischen Riten beisetzen können.

Geht man mit christlich geprägten Augen über den Friedhof, fällt auf, dass es da gar nicht so anders aussieht wie auf einem katholischen oder evangelischen Friedhof. Kreuze findet man natürlich nicht, dafür den achtstrahligen Stern. Es gibt Grabsteine und viele menschenähnliche Holzstelen bei den Gräbern. Die Kindergräber sind sofort anhand der Beigaben zu erkennen. Andere Gräber sind reich geschmückt mit Blumen und Stauden. Auf einem Grabstein ist sogar das Foto des Verstorbenen angebracht, so wie es oft auf katholischen Friedhöfen der Brauch ist. Auch Kerzen und Lichter findet man an den Gräbern. Auf manchen Grabstelen wurde das Lieblingskopftuch der Verstorbenen platziert.

Die Lage des Friedhofs weitab von weiteren Gebäuden und idyllisch gelegen mitten in der Natur bietet Platz für 700 Einzelgräber. Es ging einige Jahre, bis die Bestattungen auf dem Friedhof nun deutlich zugenommen haben. Heute sind wohl an die 400 Grabplätze vergeben.

Man kann der Gemeinde Altach und dem Land Vorarlberg für diese Religionen und Bevölkerungsschichten integrierende Meisterleistung nur gratulieren.

Übrigens kann nicht weit von diesem islamischen Friedhof entfernt auch der historische jüdische Friedhof von Hohenems besucht werden. Anders als der islamische Friedhof ist dieser nicht frei zugänglich. Der Schlüssel muss im Jüdischen Museum Hohenems abgeholt werden.

Jörg Niederer

Dienstag, 21. Oktober 2025

Kultur und Natur

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Selfie der Schrumpf-Pfarrkleingruppe in der Ruine Burg Alt Ems.
Foto © Jörg Niederer
"Der Menschheit Herr, Herr der Völker, bewahr uns vor Krieg, vor seinen Schrecken und wunden. Herr lass uns im Frieden verbleiben mit allen, die Menschenantlitz tragen nach deinem Bild und Gleichnis, Herr des Alls." Aus einem Gebet, angeschlagen in der Kobel-Kapelle Götzis  

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Einmal im Jahr wandert die methodistische Pfarrkleingruppe Ostschweiz. Gestern ging es wetterbedingt nach Österreich, von Hohenems nach Götzis. Viele waren es nicht, die da hinaufkeuchten auf den Schlossberg von Hohenems zur längsten österreichischen Burganlage des Mittelalters, zur Ruine der Burg Alt Ems. Gerade einmal drei von möglichen sieben Pfarrpersonen erlebten den Herbst, die Architektur, Kultur und Natur, wanderten im Trockenen, im Regen, durch Friedhöfe, zu verschlossenen und geöffneten Gasthäusern, an Gärten aller Art vorbei, schweigend, lachend, diskutierend, essend. Da wurden so nebenbei aus der Ferne Windeln geordert, eine Jause eingelegt, über den rechten Weg diskutiert und noch vieles mehr. Einer hatte ein Heimspiel, während zwei sich (kaum) als Ausländer:innen fühlten, in der Region, in der die Bevölkerung sich einst vergeblich um den Anschluss an die Schweiz bemühten.

Zu den kulturellen Highlights nebst der Burganlage gehörten der Jüdische Friedhof und der architektonisch ausgesprochen eindrückliche Islamische Friedhof Altach. Am Pastoralen kommt man auf so einer Tour als Pfarrer:in halt auch nicht ganz vorbei, treibt sich unsereine:r doch immer einmal wieder auch beruflich auf Totenäckern herum. Skurriler Kontrast zur andächtigen Friedhofsstimmung boten zwei für Halloween ausgeschmückte und sich konkurrierende Vorgärten in Hohenems mit menschlichem Gerippen, inszenierten offenen Gräbern, Kettensägenmonster, und grinsenden Kürbissen.

Ach ja, Aussicht hatten wir auch, Kolkraben krächzten schauerlich, Spechte flogen vorbei, das Rheintal brummte hundertfach motorisiert und Passanten grüssten "Servus". Ich finde: Es hat gepasst. Gerne wieder einmal.

Jörg Niederer

Montag, 20. Oktober 2025

Herdendummheit

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Wandernde auf einem innoffiziellen Weg in der französischsprachigen Schweiz.
Foto © Jörg Niederer
"...wo stehe ich persönlich in Gefahr, der Masse (ob auf dem breiten Weg oder dem schmalen Trampelpfad) zu folgen und dabei das Selberdenken der Bequemlichkeit zu opfern?" Stef Gerber im Blog: "Gemeinsam falsch"

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Heute darf ich mit der Pfarrkleingruppe, zu der ich während meiner beruflichen Tätigkeit dazugehörte, wandern gehen. Es wird in der Tat eine sehr kleine Gruppe, nachdem vier Personen aus verschiedenen Gründen absagen mussten. Wir werden in Österreich wandernd, da dort das schlechte Wetter an diesem Tag später ankommt als auf Schweizer Seite.

Zu diesem Vorhaben passt ein Blogbeitrag von einem anderen Berufskollekten. Stef Gerber stellt darin anhand einer Wandererfahrung augenzwinkernd fest, dass man sich auch gemeinsam verlaufen kann, dass manchmal auch der schmale Weg in die Irre führt. Dazu zitiert er (nicht mehr augenzwinkernd) aus einem Buch von Willi Näf mit dem geistreichen Titel: "Seit ich tot bin, kann ich damit leben". In einem fiktiven Interview mit dem SS-Obersturmführer Lutz Baumgartner geht es um Gleichschaltung, Gruppendruck und Herdendummheit. Die Gegenwart lässt grüssen.

Jörg Niederer

Sonntag, 19. Oktober 2025

Massstäbe

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Die aus dem 12. Jahrhundert stammende Wiler Madonna in der Marienkapelle der Stadtkirche St. Nikolaus (Wil SG).
Foto © Jörg Niederer
"Ihr sollt andere nicht verurteilen, dann wird Gott auch euch nicht verurteilen. Sitzt über niemanden zu Gericht, dann wird Gott auch über euch nicht zu Gericht sitzen. Vergebt anderen, dann wird Gott auch euch vergeben." Bibel, Lukas 6,37

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Im Buch "Der Friedhof in Prag" erzählt Umberto Eco die Geschichte eines Anwalts, der mit Urkundenfälschung und Falschaussagen Menschen begünstigt und andere ins Gefängnis gebracht hatte. Dieser korrupte Anwalt stellt einen jungen Advokaten ein, den er einst, ohne sich dessen bewusst zu sein, um sein Erbe gebracht hatte. Der junge Advokat lernt die üblen Machenschaften seines Arbeitsgebers. Mit diesen Mitteln bringt er den Anwalt hinter Gitter und die Anwaltskanzlei in seinen Besitz.

Was der Mensch sät, das wird er ernten. Oder wie es in Lukas 6,38 heisst: "Denn der Massstab, den ihr an andere anlegt, wird auch für euch gelten."

Jörg Niederer

Samstag, 18. Oktober 2025

Gefahrentolerant und fauchend

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Das Weibchen eines Hausrotschwanzes sitzt auf der Hütezaunstange.
Foto © Jörg Niederer
"Gott wünscht, dass wir den Tieren beistehen, wenn es vonnöten ist. Ein jedes Wesen in Bedrängnis hat gleiches Recht auf Schutz." Franz von Assisi (1182–1226)

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Was habe ich von meinem Vater gelernt? Erstaunlicherweise viele Dinge, die in der Natur vorkommen. Dabei war er ein typischer Vertreter seiner Zeit, ging kaum zu Fuss, fuhr leidenschaftlich gerne mit dem Auto, tauchte im Schwimmbad locker die 50 Meter und war in der Lage, beinahe alles an einem Haus selbst zu bauen und zu reparieren. Was er auch wusste: Wie der Hausrotschwanz sein Leben für seine Jungen einsetzt. So lenkt der Vogel vom Standort des Nestes ab, indem er (vermeintliche) Fressfeinde nahe herankommen lässt, um dann im letzten Moment wieder an einen anderen Ort zu fliegen. Ablenkungsflüge nennt man dieses Verhalten. Zudem hat der einstige Felsenbrüter aus den Bergen festgestellt, dass es in der Nähe der Menschen seinen Feinden nicht besonders behagt. So lebt er nun meist in und bei Häusern. Beim diesjährigen Birdrace in der Schweiz sichteten 97 von 100 Teams den kleinen Vogel mit dem roten Schwanz. Anders als der Gartenrotschwanz ist der Hausrotschwanz, dessen Singen fauchende Laute enthält und der in Deutschland zum Vogel des Jahres 2025 gewählt wurde, also nicht.

Das fotografierte Hausrotschwanz-Weibchen wird sich wohl schon bald auf den Weg nach Nordafrika aufmachen. Dort verbringt es den Winter. Im Frühjahr kommt der Vogel mit dem orangeroten Schwanz dann wieder zurück, um hier seine meist zwei Bruten grosszuziehen. Darauf freue ich mich jedes Jahr.

Jörg Niederer

Freitag, 17. Oktober 2025

Fingerzeige

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Leuchtend gelbe Blätter an einem herbstlich eingefärbten Ahornbaum.
Foto © Jörg Niederer
"Leb ich Gott, bist du bei mir, / sterb ich, bleib ich auch bei dir, / und im Leben und im Tod bin ich dein, / lieber Gott." Arno Pötzsch (1900-1956)

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Die Liedstrophe von Arno Pötzsch steht als Leitwort über der Todesanzeige eines Pfarrkollegen, an dessen Beisetzung ich heute teilnehmen werde. Dazu scheint mir dieses Foto eines Ahorns mit seinen leuchtenden und doch absterbenden Blättern gut zu passen. Die Äste ragen wie Finger in die Höhe, zeigen die Richtung an. Nicht hinab in die Grube, hinauf zum Licht geht die Reise. Die Blätter fallen einige Sekunden, der Baum aber streckt sich mitunter Jahrhunderte, weist mir die allgemeine Richtung.

Jörg Niederer

Donnerstag, 16. Oktober 2025

Hitchcocks Abendrot

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Raben- und Saatkrähen versammeln sich zum Abendrot auf den Silotürmen der Zuckerfabrik Frauenfeld.
Foto © Jörg Niederer
"Die wahre Ernte meines täglichen Lebens ist etwas so Unfassliches wie das Morgen- und Abendrot."
Henry David Thoreau (1817-1862)

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Das schauerliche Krächzen der schwarzen Vögel auf den Silos der Zuckerfabrik erinnert mich an frühe Filmerfahrungen. Hitchcock lässt grüssen. Doch dort oben, unweit von unserer Wohnung, geht es recht anständig und gesittet zu. Die Rabenkrähen und auch einige Saatkrähen treffen in kleinen Verbänden oder einzeln ein und setzen sich in gebührendem Abstand zum oder zur Gefiederten daneben auf die Stangen. Die Gespräche der Rabenvögeln kann ich hören, aber folgen kann ich ihnen nicht. Kein Kraa und kein Kroo verstehe ich. Es muss interessant sein, was sie sich da oben erzählen. Vielleicht sagen sie sich: "Schau dir diese Aussicht an!" Oder: "Heute habe ich wieder einige Baumnüsse geknackt", worauf eine andere antwortet: "Ich kenne einen Ort, das sind sie immer schon essbereit aufgebrochen." Wieder eine andere meint dann: "So langsam ist das hier kein Geheimtipp mehr, aber für das Abendrot von diesem Hotspot aus nehme ich schon etwas Dichtestress in Kauf."

Wie gesagt, ich habe keine Ahnung vom Kraa und Kroo der schwarzen Vögel. Ich weiss auch nicht, ob sie sich wirklich am Abendrot erfreuen. Ich jedenfalls finde es ganz bezaubernd, wie die Krähen auf dem Silo sich vor dem blutroten Himmel abheben und ihre Gespräch schauerlich zu mir herüberklingen.

Jörg Niederer

Mittwoch, 15. Oktober 2025

Pausentage

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Herbstlicher Altarschmuck in der ab 1532 paritätischen Kirche Thal SG.
Foto © Jörg Niederer
"Sechs Tage sollst du deine Arbeit tun, aber am siebten Tag sollst du ruhen. Auch dein Rind und dein Esel sollen ausruhen. Und der Sohn deiner Sklavin sowie der Fremde sollen sich erholen." Bibel, 2. Mose 23,12

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Christina Ragettli schreibt in ihrem Buch mit dem genialen Titel "Von Wegen" über ihre 2363 Kilometer lange Weitwanderung auf der Via Alpina von Triest nach Monaco auch über ihre Lernerfahrungen. Eine davon könnte auch ein Plädoyer für den sonntäglichen Ruhetag sein.

"Erst wenn man Pausen einlegt, dann freut man sich wieder auf den Wanderalltag. Und wenn man wandert, freut man sich auf den Pausentag. Diese Abwechslung war für mich so wichtig und hat vielleicht über Erfolg und Misserfolg - oder besser: Ankommen und Nicht-Ankommen entschieden. Auch Hermann fragte mich immer wieder: 'Äh was, dort machst du wieder eine Pause?' Aber als ich Hermann traf, war ich schon ganz entspannt und erklärte ihm: 'Ja klar, hey, ich habe keine Eile - muss nur wieder zurück ins Büro, wenn ich fertig bin.'" (Christina Ragettli, Von Wegen, München 2025, S. 246f)

Jörg Niederer

Dienstag, 14. Oktober 2025

Farbe ins Leben bringen

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Die Blüte der Färber-Hundskamille wurde für die Gelbfärbung von Stoffen verwendet.
Foto © Jörg Niederer
"Bunt sind schon die Wälder, Gelb die Stoppelfelder, Und der Herbst beginnt." Johann Gaudenz von Salis-Seewis (1762-1834), "Herbstlied"

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Bald schon wird uns die Zeitumstellung in eine gefühlte Dunkelheit zurückwerfen. Spätestens dann wünscht man sich, man könnte das Licht der Sonne einfangen und konservieren. In gewisser Weise gelingt das auch indirekt über die Energiegewinnung aus der Sonne und dann durch den Einsatz elektrisch erzeugten Lichts. Aber auch ein Cheminéefeuer ist nur möglich, weil der Baum sein Holz mittels Sonnenlicht erzeugt hat. Genauso gilt das auch für die Blume, die teilweise ihre Färbung der Fotosynthese aus Sonnenlicht verdankt.

In den Buntbrachen, die aktuell neben abgeernteten Feldern mehr auffallen als in der Vegetationszeit der Nutzpflanzen, findet man immer noch gelb blühende Pflanzen, etwa die Königskerze oder dann eben eine alte Färberpflanze, die Färber-Hundskamille. Anders als die Kamille, mit deren Blüten wir gesunden Tee aufbrühen, hat die Hundskamille weniger Heilwirkung. Der Bezug auf die Hunde ist durchaus abwertend gemeint. Der Zusatz "Hunds-" wird in der Volksmedizin oft für "minderwertige" Pflanzen verwendet.

Die Färber-Hundskamille hat andere herausragende Eigenschaften. Mit ihren leuchtend gelben Blüten kann man Baumwolle und Hanf lichtecht gelb färben. Mit anderen Worten bringt die Färber-Hundskamille Farbe ins Leben hinein. Grund ist der Hauptfarbstoff Luteolin. Luteolin wirkt schlaffördernd und hat noch andere "Nebenwirkungen". So kann Luteolin in flüssiger Form die Haut und die Augen reizen, was ihn zu einem zu kennzeichnenden Gefahrenstoff macht.

Alles hat eben seine zwei Seiten. Statt Mitmenschen zu reizen ist es wohl besser (und reizvoller), Licht und Farbe ins Leben zu bringen. Dazu regt mich an diesem Tag die Färber-Hundskamille an.

Jörg Niederer

Montag, 13. Oktober 2025

Streit um nichts

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Zwei Lachmöwen streiten sich um einen Plastikfetzen.
Foto © Jörg Niederer
"Solange es Haare gibt, liegen sich Menschen in denselben." Heinz Erhardt (1909-1979)

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Wie viel Wert ein Plastikfetzen für eine Lachmöwe hat, weiss ich nicht. Zumindest ist der Abfall den Vögeln eine wilde Verfolgungsjagd wert. Mir kommt es vor, als wäre es ein Streit um nichts.

Wie oft streiten auch wir Menschen uns über banalste Dinge und Kleinstigkeiten. Dann balgen wir uns, im Bild gesprochen, um einen Fetzen Plastik, um fast nichts.

Darum: Heute will ich mich nicht aufregen und gelassen bleiben. Heute wird ein Tag ohne Streit um nichts.

Jörg Niederer

Sonntag, 12. Oktober 2025

Was können die Reichen schon dafür?

Ein Zitat:

Luxus-Autos beim Primetower in Zürich.
Foto © Jörg Niederer
"Und Jesus richtete die Augen auf seine Jünger und sprach: Selig ihr Armen - euch gehört das Reich Gottes... Doch wehe euch, ihr Reichen - ihr habt euren Trost schon empfangen." Bibel, Lukas 6,20+24

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Kann man mit Armut und Reichtum rechnen? Kann man die Armut einsetzen, um einen Platz im Himmel zu gewinnen? Und muss man den Reichtum einsetzen, um den Platz im Himmel nicht zu verlieren? Was, wenn es den Platz im Himmel gar nicht gibt? Ist man dann als Armer hier und dort zu kurz gekommen, hat doppelt am Leben vorbei gelebt? Hätte folglich ein reicher Mensch alles richtig gemacht? Er hätte auf Kosten manch anderer gelebt, und würde das in alle Ewigkeit nie bereuen.

Glauben deshalb arme Menschen auf der ganzen Welt an den Himmel und Gott, weil das ihre einzige hoffnungsvolle Perspektive ist?

In dieser Welt kommt man entweder arm oder reich zur Welt. Ich zum Beispiel bin in eine reiche Gesellschaft hineingeboren worden. In dieser Gesellschaft bin ich zwar nicht sonderlich wohlhabend. Ganz bestimmt gehöre ich nicht zu den 42 Reichsten, die so viel besitzen wie die 3,7 Milliarden ärmsten Menschen. Aber ich lebe gut; im Überfluss. 

Da ist es schon wichtig, zu wissen, ob es nun einen Himmel und ob es Gott gibt, und ob ich mir als Wohlhabender ernsthaft Sorgen um meine himmlische Zukunft machen müsste.

Kann man mit Armut und Reichtum rechnen? Lässt sich Gott mit Armut kaufen? Kann man ihn durch Verarmen gnädig stimmen? Oder kommt es letztlich nur auf den Glauben an, und gar nicht so sehr darauf, sein Leben und den Besitz mit anderen Menschen zu teilen?

Jörg Niederer


Samstag, 11. Oktober 2025

Heiden mit Ziegen

Ein Zitat

Ziegen ruhen sich vor dem Ort Heiden auf einer Wiese aus.
Foto © Jörg Niederer
"Sieb'n Zylinder sind genug, jupheidi, jupheida, für 'nen kleinen Leichenzug, jupheidiheida; hat man der Zylinder acht, wird der Pastor auch bedacht." 4. Strophe des Lieds "Schön ist ein Zylinderhut"

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Nicht dass ich diese Wanderung nicht schon einmal unter die Füsse genommen hätte. Der Aufstieg von Rorschach nach Heiden folgt dem Alpenpanoramaweg. Genau deshalb habe ich die Strecke noch einmal begannen. Denn ich will diesem dritten Hauptweitwanderweg durch die Schweiz nun in der nächsten Zeit folgen, soweit ich eben komme. Zugleich ist es ein gutes Training für das Bergaufgehen.

Oben in dem zu Appenzell Ausserrhoden gehörenden Ort Heiden war gerade Jahrmarkt, wobei man das nahe bei der Kirche kaum bemerkte. In BeDas Cafe, in dem ich einen ausgezeichneten Hamburger ass, erzählte mir eine Frau, dass man da als Heimweh-"Hääderin" auf jeden Fall dabei sein müsse. Mich zog es dann aber nicht dorthin, sondern hinunter nach Thal und Rheineck.

Woher kommt der Name "Heiden"? Er wird nicht vom dem aus römisch-katholischer Sicht der Innerrhödler gesehenen Zustand des Glaubens der Ausserrhödler:innen abgeleitet. Nein, mit Heidentum hat das gar nichts zu tun. Ortsnamen.de weiss: "Heiden geht zurück auf das althochdeutsche Gattungswort heida (> mittelhochdeutsch heide, schweizerdeutsch Heid 'unbebautes, wildbewachsenes Land; Heidekraut'). In Orts- und Flurnamen bezeichnet das Wort das weite, offene Feld im Gegensatz zur geschlossenen, engeren Gemarkung des Dorfes..."

Nun weiss ich endlich, woher das "Heida" im Refrain des Lieds "Schön ist ein Zylinderhut" kommt. Da gibt es also die Jup Heidi und den Jup Heida und sie wohnen wohl nicht in Heiden sondern in Videralala, heida.

Jörg Niederer

Freitag, 10. Oktober 2025

Versprechen

Ein Zitat

Bei dieser Raupe handelt es sich um die der Gemüseeule auf dem Weg ins Winterschlafquartier.
Foto © Jörg Niederer
"Niemand verachtet die Raupe mehr als der Schmetterling." Klaus D. Koch (*1948)

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Ist sie nicht schön, diese Raupe. Es soll sich um die Raupe einer Gemüseeule handeln, was gut zum Zeitpunkt und zur Lokalität passt. Rund herum waren Felder im Oktober. Diese Gemüseeule-Raupe war nicht allein unerwegs. Gleich noch drei weiteren halfen wir über die Strasse in die sichere Wiese. Beim Aufnehmen zappelte sie ein bisschen, doch dann krochen sie über die Hand und entlang der Fingern in Sicherheit.

Vermutlich hätte es der Bauer lieber gesehen, wenn sie das Grün nicht erreicht hätten. In der Landwirtschaft gelten sie als Schädlinge.

Für mich sind Raupen Versprechen. Aus ihnen werden einmal fliegende Wesen. Eine Verwandlung später wird das sein. Auch wir Menschen warten auf Erfüllungen von Verheissungen. Auch dazu braucht es Zeit. Wie weit ist meine Verwandlung schon fortgeschritten? Oder krieche ich noch an den Ort, an dem das geschehen soll?

Jörg Niederer

Donnerstag, 9. Oktober 2025

Kussmund im Rübenfeld

Ein Zitat

Klatschmohn leuchtet in der Sonne rot auf in einem Rübenfeld bei Frauenfeld.
Foto © Jörg Niederer
"Mohn ist keine Pflanze für die Vase. Mohn, das ist Farbe für das Feld."

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Die hohe Zeit des Klatschmohns ist im Oktober vorbei. Doch einige leuchtendrote Blüten haben sich in den Herbst verirrt. Wie Magnete das Eisen ziehen sie meine nach Farben hungernden Blicke an. Kussmünder im Antlitz der Erde. Flatterhaft verwischen im Wind die Töne, gehauchte Kleckse auf die Palette der Bauern. Was braucht es da noch viel Worte. Tausend Augen bräuchte es.

Jörg Niederer

Mittwoch, 8. Oktober 2025

Fortschritt der Trümmerhaufen

Ein Zitat

Der "Engel der Geschichte" von Günther Blenke unweit vom Jüdischen Museum in Hohenems.
Foto © Jörg Niederer
"Mein Flügel ist zum Schwung bereit / ich kehrte gern zurück / denn blieb ich auch lebendige Zeit / ich hätte wenig Glück" Gerhard Scholem (1897-1982), Gruss vom Angelus

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In Hohenems, unweit vom Jüdischen Museum, steht eine Brunnenfigur von Günther Blenke, erstellt aus Teilen einer vom Blitz getroffenen Eiche. Aufgestellt wurde der "Engel der Geschichte" erstmals im Jahr 2020.

Dazu steht auf einer Tafel:

"Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heisst. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. der Engel der Geschichte muss so aussehen. er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewandt. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füsse schleudert. er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schliessen kann. dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm."

Wenn ich diese Zeilen lese, denke ich an zwei Jahre und einen Tag unglaubliches Leid im Nahem Osten, denke ich an das durch die Hamas für Israel und die eigene Bevölkerung ausgelöste und durch Israels Regierung fortgeführte Grauen, und komme nicht darum herum, das in diesem Text auffindbare düstere Bild der Vergangenheit und der Geschichte zu teilen. Wie viel Leid geschieht sinnlos durch die Menschheit? Wann endlich werden alle Tränen abgewischt?

Dienstag, 7. Oktober 2025

400'000'000 neue Bäume

Ein Zitat

Ausgeräumte Landschaft bei Andelfingen.
Foto © Jörg Niederer
Unlauter handelt, "...wer Angaben über sich, seine Waren, Werke oder Leistungen in Bezug auf die verursachte Klimabelastung macht, die nicht durch objektive und überprüfbare Grundlagen belegt werden können." Art. 3 Abs. 1 lit. x des Schweizerischen Bundesgesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) 

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Viseca Card Services SA will Gutes tun für unser Klima. So habe das weltweit tätige Unternehmen in diesem Jahr 25'000 neue Bäume gepflanzt. Das sei geschehen im Rahmen der von Mastercard ins Leben gerufenen "Priceless Planet Coalition". Diese hat zum Ziel, 100 Millionen Bäume weltweit neu zu pflanzen. Allein ist dieses Ziel von Mastercard bzw. Viseca nicht zu erreichen. Würde man immer nur 25'000 Bäume pro Jahr pflanzen, ginge es 4000 Jahre, bis das Ziel erreicht wäre. Aber im Boot sind ja noch Partnerunternehmen vor allem aus dem Bankensektor. Zusammen habe man im Jahr 2024 bereits 24 Millionen Bäume von Wiederaufforstungsprojekten finanziert. Da es auf der Erde geschätzt 3 Billionen Bäume geben soll, entsprechen 100 Millionen Bäume einem Promille des Wald- und Baumbestands.

Nicht schlecht, oder? Nur ist es sehr entscheidend, wie diese Bäume gepflanzt werden. Einfach nur schnellwachsende Bäume finanzieren, um möglichst viel C02 kompensieren zu können, ist nicht gleichwertig mit einem natürlich gewachsenen, ökologisch vielfältigen Urwald. Weiter sollten nicht einfach schon sowieso geplante Aufforstungen durch die Initiativen der Priceless Planet Coalition finanziert werden. Da verbessert sich nicht die Ökobilanz, sondern nur der Geldgeber. Weiter haben solche Aufforstungen das selbe Problem wie die Atomkraftwerke. Wer garantiert auf 100-200 Jahre oder noch länger hinaus, dass diese Wälder auch stehen bleiben. Denn sobald sie abgeholzt oder durch Feuer zerstört werden, ist der Effekt bei den Treibhausgasen weg. Hinzu kommt, dass der Abholzungsprozess vieler Orts immer noch schnell voranschreitet. Dass dies geschieht, daran sind die Banken nicht unschuldig, finanzieren sie diese Entwicklung doch nach wie vor mit.

Ökologisch gesehen sollte man wohl eher in mehr Moore und Feuchtgebiete investieren, binden diese doch 100 mal mehr C02 als Wälder.

Nun will ich der Priceless Planet Coalition nicht unterstellen, dass sie dies alles nicht auch berücksichtigt bei ihrer Baumpflanzinitiative. Denn Greenwashing, das wissen die Finanzdienstleister, führt zu Reputationsschaden und kann vor Gericht enden.

Ganz generell für die Natur gilt: Intakte Umwelt bewahren ist besser, als nachträglich deren Zerstörung wieder reparieren zu wollen.

Jörg Niederer

Montag, 6. Oktober 2025

Wertvoll?

Ein Zitat

In Zürichs Fluss Limmat sitzt auf einem Poller ein Froschkönig mit Krone und schaut hinaus auf sein Reich.
Foto © Jörg Niederer
"So legt, ihr Niedern, nieder euch, beglückt; Schwer ruht das Haupt, das eine Krone drückt." William Shakespeare (1564-1616)

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Zürich liegt am Zürichsee. Also hat es dort auch allerlei Gerät für eine Schifffahrt, welche sich auf der Limmat landeinwärts bis zum Landesmuseum hinzieht. Dort auf der Limmat, einige Meter vom befestigten Ufer entfernt, sitzt auf einer Dalbe ein Froschkönig und überblickt sein wässeriges Reich.

Warum diese Figur dort steht, weiss ich nicht. Vielleicht ist sie Bestandteil eines Trails, auf dem es allerlei zu entdecken gibt. Vielleicht gibt es eine Tradition von Froschkönigen in der Zwinglistadt. Vielleicht ist es eine Kunstinstallation. Jedenfalls scheint es kein Zufall zu sein, dass der Froschkönig dort sitzt, ist er doch mit einer Leine am Poller gesichert, so dass er nicht einfach so von schwimmenden Dieben mitgenommen oder von einer Flut weggetragen werden kann. Der Froschkönig scheint also irgendwie wichtig zu sein.

Dass er nicht nur ein Frosch ist, sondern ein Froschkönig, ist leicht an der Krone zu erkennen. Ihrer Form nach und in Zeiten des Gendern könnte es sich aber auch um eine Froschkönigin handeln. Mit Krone wird aus einem Frosch, dem die Franzosen ihrer Froschschenkel wegen nachstellen, ein Wesen, das man besser küsst, statt zu verspeisen.

Wenn das bei den Menschen nur auch so einfach wäre. Wenn alle Wertvollen und Guten der Menschheit Kronen tragen würden. Die ohne Krone verspeist man natürlich trotzdem nicht; wir leben ja nicht unter Barbaren. Die macht man zu Arbeiterinnen und Arbeitern.

Aber so ist es nicht. Bei der Menschheit tragen nur Kinder und Models Krönchen, oder dann noch die Blaublütigen, die es zwar gibt, aber deren Kronen nichts über ihren Anstand und ihre Ethik auszusagen vermögen. Folglich kann gesagt werden: Kronen sollten nicht überbewertet werden. Geboren jedenfalls wurde noch keiner und keine mit einer solchen Macht- und Schönheitsinsignie.

Vermutlich bedeutet dies, dass jeder Mensch in sich seinen Wert trägt, Krone hin oder her. Diese "inneren Kronen" zu entdecken mache ich mich heute wieder auf den Weg.

Jörg Niederer

Sonntag, 5. Oktober 2025

Vom Schlamm und von Ruinen

Ein Zitat

Die 'Alte Kirche' in Widnau wurde bis auf wenige Mauerabschnitte 1990 abgerissen.
Foto © Jörg Niederer
"Er [Gott] zog mich aus der todbringenden Zisterne, aus dem ganzen Schlamm und Dreck. Er stellte meine Füße auf einen Felsen und gab meinen Tritten festen Halt." Bibel, Psalm 40,3

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Schon vor dem Sturm Lothar war der Weg hinunter ins Tal weitgehend zugewachsen. Nach dem Unwetter waren auch noch die letzten existenten Abschnitte unter umgestürzten Bäumen begraben. Ich versuchte trotzdem den Abstieg und landete prompt in einer wirklich morastigen Grube. Erst 30 Minuten später stand ich erschöpft wieder oben auf sicherem Grund. 30 Minuten, die mich ausser Atem gebracht und meine Kleidung braunmatschig gefärbt haben. Als hätte sich der Himmel gegen mich gewandt, klatschte nur kurze Zeit später eine tote Taube nur wenige Zentimeter neben mir auf den Boden. Fast wäre ich dem Schlammtod entronnen von Federn erschlagen worden.

Wie sieht dein "Schlamm und Dreck" aus? Ist es eine seit Jahren vertrackte Beziehung? Ist es die Arbeit, oder das Fehlen von Arbeit? Sind es Altlasten aus der Kindheit? Wie oft hattest du dich fast freigestrampelt, um dann doch wieder hinunter zu rutschen in die "todbringende Zisterne"?

Gib nicht auf! Nimm dir den obenstehenden Bibelvers als bare Münze: Gott zieht dich herauf! Also auf zum nächsten Versuch!

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Zur Fotografie: Ein Jahr lang fuhr ich auf meinem Weg nach Diepoldsau in Widnau immer wieder an einer Ruine vorbei. Niemand konnte mir sagen, was es mit diesen mit Kreuz versehenen Mauern auf sich hat. Vor zwei Tagen besuchte ich den Ort, und so weiss ich nun, dass es sich um die "Alte Kirche" handelt. Die Römisch-katholische Jakobuskirche wurde 1990 abgerissen, nachdem die 1904 eingeweihte Josefskirche ab dann als Hauptkirche genutzt wurde. Heute sind nur noch Teile des Turms und des Altarraums übrig geblieben. 

Der Abbruch soll zu diskutieren gegeben haben. Der Abschied von diesem Gotteshaus fiel wohl nicht leicht. Wer sehen möchte, wie die Jakobuskirche einst ausgesehen hat, kann ein Modell von Antonio Ciardullo anschauen, das er davon im Massstab 1:40 erstellt hat.

Jörg Niederer

Samstag, 4. Oktober 2025

(Un-)Begründete Angst

Ein Zitat

Europäische Hornissen trinken an einer günstigen Stelle den Saft der Birke.
Foto © Jörg Niederer
"Die Menschen werden jenes Ding verfolgen, vor dem sie am meisten Angst haben." Leonardo Da Vinci (1452–1519)

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Angst sei ein schlechter Ratgeber, heisst es. Unvermittelt stand ich einen Schritt weit weg von drei Europäischen Hornissen. Mit nur wenige Zentimeter Spielraum wollte ich mich zwischen Birke und Gartenbank durchzwängen.

Hornissen. Früher hätte ich mich vor unseren grössten Fächerflüglern gefürchtet. Diesmal ging ich bis wenige Zentimeter mit dem Fotoapparat an sie heran. Sie liessen sich von mir beim Saugen des Birkensafts nicht stören. Eine vierte Hornisse flog sogar noch heran und setzte sich unter die Kamera.

Früher erzählten wir uns, dass es nur sieben Hornissenstiche brauche, um ein Pferd zu töten, und nur drei bei einem Menschen. Doch erstens stimmt das nicht. Selbst bei gefährlicheren Hornissen in den Tropen braucht es bei auf das Gift nicht allergischen Menschen mindestens dreihundert Stiche. Und zweitens sind die Europäischen Hornissen wenig aggressiv, was ich dort bei der Birke gut beobachten konnte.

Angst ist also bei diesen Insekten unbegründet.

Könnte es sein, dass wir uns oft täuschen in der Einschätzung von dem, was uns Angst machen sollte, und dem, wovor wir uns fürchten? Nur ein Beispiel: Warum ängstigen sich viele Menschen hier in der Schweiz mehr vor Schlangen als vor einer Autofahrt? Seit 1961 ist kein Mensch mehr durch einen Schlangenbiss ums Leben gekommen. Dagegen sind in der Schweiz allein im Jahr 2024 250 Personen im Strassenverkehr ums Leben gekommen. Würde Bundesrat Rösti ebenso konsequent wie er gegen Wölfe vorgeht (Es gab im Zeitraum von 1950 bis heute in Europa 8 durch Wölfe getötete Menschen, allesamt durch angefütterte Tiere oder durch Tollwut) gegen Todesfälle im Strassenverkehr handeln, müsste generell 30 km/h innerorts auf allen Strassen schon längst eingeführt sein. Selbst vor Schulen, vor denen Kinder schon durch den Strassenverkehr ums Leben gekommen sind, darf mitunter nicht das Tempo von 50 auf 30 km/h reduziert werden.

Bei diesem Vergleich spielt aber wohl noch eine andere Angst eine noch grössere Rolle. Die Angst vor einem Verlust an Popularität bei der eigenen Wählerschicht, bei den Autofahrer:innen und den Landwirt:innen.

So kommt es, dass wir uns lieber vor Hornissen fürchten, als vor einer Wanderung in den Bergen oder den Motorfahrzeugen auf dem Schulweg unserer Kinder. Vielleich sollten wir uns am ehesten vor unserer unkalibrierten Angst ängstigen, die uns immer wieder blind werden lässt für das, was uns am meisten das Fürchten lernen sollte: der wachsenden Lieblosigkeit gegen unsere Mitmenschen.

Jörg Niederer

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