Ein Zitat
"liebe gemeinde / wir befehlen zu viel / wir gehorchen zu viel / wir leben zu wenig" Kurt Marti (1921-2017) im Buch "Leichenreden" (Darmstadt und Neuwied 1984, S. 35)
Foto © Jörg Niederer
Hingesehen
Zum heutigen Halloween gäbe es gleich einige Illustrationen. Da wäre das auf Güterwagons der Bahn gesprayte menschliche Skelette. Oder dann der schauerliche Dekorationswettkampf zweier Nachbarn im Vorarlbergischen Hohenems. Auch die drei klassisch geschnitzten, ausgehölten und mit Kerzenlicht erleuchteten Kürbisfratzen auf dem Brunnen vor dem methodistischen Mehrfamilienhaus in Frauenfeld wären schön anzusehen. Ich habe mich aber für die Aktion "Brings i'd Box" des Quartiervereins "Im Vogel" von Wollishofen entschieden. Dabei sind einige wirklich kreative Halloween-Miniaturen entstanden. So wird Barbies Tod zelebriert, Clowns sind zu sehen und viele Gerippe. Manches erinnert an kirchliche Reliquien.
Nun ist Halloween in frommen Kreisen immer noch umstritten. Dabei macht diese spielerische Beschäftigung mit dem Tod durchaus Sinn. Gleich wie in den Leichenreden von Kurt Marti der floskelhaften Flucht vor dem Sterben eine Absage erteilt wird, so wird an Halloween der Verdrängung des Todes in der westlichen Welt explizit widersprochen. Das geschieht mit einer morbiden Fröhlichkeit. Die Angst vor dem Tod findet ein Ventil im gemeinsamen Zelebrieren der Vergänglichkeit. Die Leichenschau des kleinen Mannes bereitet die Menschen auf das Unvermeidliche vor. Beim Betteln an der Haustür wird das Unvermeidliche versüsst.
Vielleicht ist Halloween ja auch ein Flucht in die Realität. Eine Realität, die Kurt Marti so verräterisch in Worte fasste: "dem herrn unserem gott / hat es ganz und gar nicht gefallen / dass gustav e. lips / durch einen Verkehrsunfall starb. … dem herrn unserem gott / hat es ganz und gar nicht gefallen / dass einige von euch dachten / es habe ihm solches gefallen // im namen dessen der tote erweckte / im namen des toten der auferstand: / wir protestieren gegen den tot von Gustav e. lips" (Kurt Marti, Leichenreden, Darmstadt und Neuwied 1984, S. 23)
Jörg Niederer
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